LIEBLINGSSTÜCKE – Alexander Jeanmaire & Gotthard Graubner – nichts zu sehen??

Lieblingsstücke.

Alexander Jeanmaire machte sich auf die Suche nach seinem LIEBLINGSSTÜCK – und fand in Gotthard Graubner Farbleibern Inspiration für… aber lesen Sie selbst!

Als ich die Einladung der Kunstakademie Bad Reichenhall erhielt, einen Text mit dem Titel „Lieblingsstücke“ zu schreiben, indem es um mein Lieblingswerk in der Kunst gehen sollte, stellte ich fest, dass ich kein solches Lieblingswerk im Singular habe, sondern eher Lieblingskünstler, deren Werk, Stil und Konzept mir gefallen und meiner eigenen Anschauung von Kunst entsprechen. Und auch von diesen gibt es mehrere. Aus dieser Gruppe von Lieblingskünstlern möchte ich einen, dessen Bilder mich besonders faszinieren herausgreifen und sie zum Objekt meiner Betrachtung machen. Allerdings zögerte ich unmittelbar nach meiner spontanen Auswahl, denn auf seinen Bildern gibt es nämlich – provokant ausgedrückt – NICHTS zu sehen. Und dieses Nichts zu reproduzieren und zu beschreiben ist – ähnlich wie bei dem amerikanischen Maler

Mark Rothko († 25.Februar 1970 in New York) – eine heikle, wenn nicht unmögliche Angelegenheit, denn diese monochrome Malerei wird von kleinsten Details, Nuancen und Verläufen bestimmt, von denen die Wichtigsten bei einer Reproduktion oft verloren gehen. Aber es ist gerade dieses sein Geheimnis, die beseelte Leere sichtbar zu machen, was mich an diesem Künstler besonders reizt.

Die Rede ist von dem deutschen Maler und Exzentriker: Gotthard Graubner (geb.13.Juni 1930 in Erlach, Vogtland Sachsen – gest. 24.Mai 2013 in Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen) In einem alten „Art-Das Kunstmagazin“ vom 2. Februar 1987 lese ich im Zuge meiner Recherchen unter dem Titel: Meister und Magier der Farbe: „Der Düsseldorfer Maler Gotthard Graubner ist der pominenteste Kolorist seiner Generation. Auf seinen Gemälden gibt es weder Figuren noch Gegenstände, Formen oder Zeichen – nur Farbe. Doch die setzt er so autonom und sinnlich ein, dass sogar Kritiker verstummen“.


Das auffallendste Merkmal das Graubner vom Gros der Maler, die  seit Jahrhunderten auf Leinwänden malen, unterscheidet, sind eindeutig seine „Matratzen“ auf die er oft mehr als 25 Liter Acrylfarbe und Pulverpigmente mit unterschiedlichsten Instrumenten, grossen Pinsel, Wedel und Besen, wässerig auftrug oder goss. Diese auffälligen dreidimensionalen Bildträger bestehen aus zwei Leinwänden deren dazwischen liegende Hohlraum er mit Synthetik-Watte füllte. Mit Wachs und und verschiedenen Firnissen die Graubner über die fertigen Bildern schichtet, erzielte er jene Tiefenwirkung der Farbe die man während des konzentrierten Schauens sehr bald wahrzunehmen vermag.

Er nannte sie „Farbleiber“ oder „Farbraumkörper“ seine voluminösen, haptischen Gebilde.

Erstaunlich sind unsere Parallelen. Denn lange bevor ich etwas von Graubner hörte, nannte ich meine Bilder bereits „Farb-Klang-Körper“.  Auf der Suche nach stichhaltigen Kriterien für unsere Bilder waren wir uns geistig offensichtlich sehr nah.

Es gibt eindrückliche Fotos, wie der stämmige, attraktive Mann mit Bart, in Mitten dieser grossen Matratzen, in seinem weissen Overall, beinahe klein und verlassen wirkt, wie er sich wohl, angesichts des äusserst heiklen, niemals ganz beherrschbaren Malprozesses und seiner hohen Ansprüche, oft auch gefühlt haben musste.

Man wusste um seine Befindlichkeit bei der Arbeit. Wenn die Farben nicht so ineinander flossen, wie er sich das vorstellte, reagierte er offenbar mit Kreislaufschwäche, Gelenkschmerzen und Hustenanfällen. Wenn sich jedoch das Blatt wendete und sich die Farben endlich fügten und nach seinem Ermessen Vollendung fanden, war er wie ausgewechselt.  Fröhlich, munter wie ein Kind und schick gekleidet schwebte er in seinem Outfit als Dandy, für das er bekannt war, aus dem Hause. Dann zelebrierte der Grandseigneur ein Essen bei seinem Lieblingsitaliener, kostete einen schönen Rotwein und genoss zum Abschluss seine Zigarre.

Graubners Farbraumkörper haben für mich eine spirituelle Qualität. Wenn ich vor so einem vier mal vier Meter oder grösseren Werk stehe, und das tat ich zweimal, im deutschen Pavillon der Biennale von Venedig und im Frankfurter Museum für moderne Kunst, kommt mir keine Form, kein Thema entgegen, das mich abholen und mir eine Assoziation, eine Deutung oder einen gedanklichen Einstieg ermöglichen würde. Seine Farbleiber, wie er sie auch noch nannte, machen keine Aussagen. Weder politische noch weltanschauliche. Sie dienen nicht den Worten, oder dem Künstler, sondern der Stille. Mein Verstand kapituliert. Ich werde eins mit der Energie des Werkes und einer vom Denken befreiten Seinserfahrung. Ich erkenne, dass dieses Nichts, die Abwesenheit der Form, eben nicht nichts, sondern unendlicher Raum, kompakte Fülle und Reichtum, jenseits meiner persönlich gefärbten Wahrnehmung ist. Ich atme die Farben, schwinge im Raum. Nicht verloren, sondern aufgehoben.

Diese tröstliche Erfahrung ist jedem Menschen möglich. Gerade jetzt wo die Welt Kopf steht und wir zum Rückzug gezwungen werden, hätten wir Zeit dazu. Von heute auf morgen ist nichts mehr wie es einmal war. Unsere Lebensform, unsere Denkmuster und alten Gewohnheiten stehen, wie der Betrachter vor Graubners Bildern, vor dem Nichts. Alle Fluchtwege sind abgeschnitten. Wie man sieht atmet die Erde förmlich auf und kann sich von uns erholen, wunderbar. Vielleicht war ja die sogenannte Normalität gar nicht so normal wie wir sie gerne wieder hätten. Bis es soweit ist, können wir endlich schöpferisch werden und uns in aller Stille an längst verlorene Kinderträume erinnern, uns darauf besinnen, wer wir wirklich sind und was wirklich zählt. Ich denke da an Dankbarkeit, an die Liebe zur Natur und die schneeweissen Frühlingsknospen am Apfelbaum.

Wenn Kunst im Idealfall eine Brücke zwischen der materiellen und der geistig-spirituellen Ebene sein kann, so würden Graubners Werke diesem Anspruch mehr als gerecht, denn sie weisen auf eine tiefere und umfassendere Wirklichkeit jenseits der Form hin. Nur weil wir diese nicht sehen, heisst dies ja noch lange nicht, dass es diese Wirklichkeit nicht gibt.

Mag sein, dass diese Sichtweise gar nicht Graubners Absicht war. Aber auf Grund der gegenwärtigen Lage auf unserem Planeten, war es mir ein Anliegen meine persönliche Sichtweise der Begegnung mit diesem eigenwilligen Werk zu notieren. Nicht zuletzt weil Graubner Mut macht, eigene, neue Wege zu gehen.

Text: Alexander Jeanmaire

Maler, Schriftsteller und Lehrer für Kreativität und Lebenskunst

Dozent an der Kunstakademie Bad Reichenhall

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