KREATIVITÄT – MODEWORT DES JAHRZEHNTS
von Stefan Wimmer, Direktor der Kunstakademie Bad Reichenhall
Nicht zufällig wählt das international renommierte Kunstmagazin Kunstforum Kreativität in seiner 250. Ausgabe zum Titelthema. Bei Google ergibt sich innerhalb von 20 Sekunden über 30 Millionen Seiten zum Schlagwort Kreativität. Schlagen wir die Zeitung auf, gibt es egal in welcher Rubik annähernd täglich Artikel in denen Kreativität erwartet, besprochen, gesucht oder ihr Mangel beschrieben wird. Beim beliebtesten Sport der Deutschen, dem Fußball, werden Chancen kreiert, in Unternehmen werden neue Jobs kreiert, nicht alleine die Kreativwirtschaft sucht Menschen, die kreativ sind sondern auch die Industrie. Offensichtlich sind wir alle kreativ und diejenigen, die es noch nicht wissen haben also die Aufgabe Ihre kreative Seite zu entdecken. Glücklicherweise gibt es die Kunstakademie Bad Reichenhall – bei uns können Sie das – übrigens seit mehr als 20 Jahren. Aber seien Sie nicht enttäuscht, wenn es nicht ohne Arbeit vonstattengeht.
Und ebenso nicht zufällig erlaube ich mir heute – kurz nach meinem Start als neuer Direktor der Kunstakademie Bad Reichenhall, in unserem Blog etwas zu diesem Phänomen der Kreativität zu schreiben. Unser Blog wird in Zukunft ein Ort sein, in dem wir Sie auf Phänomene und Themen aufmerksam machen, die uns beschäftigen, die uns aufgefallen sind und die wir mit Ihnen teilen wollen. Es ist ein Ort, wo wir Menschen, die wir besonders interessant finden, bitten werden Beiträge zu verfassen. Und da Kunst und Kultur nicht in einem luftleeren Raum, sondern in einem gesellschaftlichen Umfeld entstehen und dieses Umfeld oft wesentlichen Einfluss auf die künstlerische Arbeit hat, werden Sie in Zukunft nicht nur Beiträge lesen können, die bildende Künstler*innen verfasst haben, sondern auch Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen und Musiker*innen.
Zurück zu unserem heutigen Thema: Kreativität ist offensichtlich ein Wort, das sich in seiner inflationären Verwendung abschleift, nicht aber gilt das für die Eigenschaft kreativ tätig zu sein. Gleichgültig welcher Definition der Kreativität sie sich verpflichtet fühlen oder welcher sie auf der Spur sind, allen ist gemeinsam, das es scheinbar ein Phänomen gibt, Neues zu entdecken bzw. zu entwickeln das sich nicht im eigentlichen Sinne ursächlich herleiten lässt aus der Vergangenheit. So wird in der Kunstgeschichte vielfach vom genialen Moment gesprochen, der plötzlich etwas Neues zur Sichtbarkeit bringt. Aber, und dies ist durch die Forschung im Bereich der Psychologie, Neurologie, Soziologie, Kunstwissenschaft und nicht zuletzt der Philosophie der vergangenen Jahrzehnte deutlich belegt, entsteht der geniale Moment aus einem Punkt der Ruhe heraus, dem Besinnen, dem Innehalten und damit einer Art zweckfreien Situation. Es ist ein Moment der Erkenntnis: ein Moment der Dinge sichtbar werden lässt, die bereits vorher existent waren und die nun aber gesehen werden können. Und so wird Paul Klees vielfach missbrauchtes Bonmot „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder sondern macht sichtbar“ wieder bedeutungsschwer.
Wir sprechen im Prozess der Kreativität davon Erkenntnis zu produzieren und Bedingungen zu schaffen, die diese Erkenntnisfähigkeit verstärken. So ist uns allen nur zu gut vertraut, dass ein besonderer und oftmals tiefgreifender Gedanke in Momenten größter Banalität im Bewusstsein auftaucht. Sei es auf der Toilette, im Bad, beim Müll hinausbringen, beim Rasenmähen, beim Duschen. Alles Situationen, die einem anderen Zweck dienen. Aber und vor allem auch Situationen, die unser Gehirn nicht übermäßig belasten und ihm Zeit lassen in seinen hintersten Winkeln nach Sinn zu suchen, Verbindungen zu schaffen, die wir aktiv und bewusst nicht herstellen würden.
Ist demnach Müßiggang die Lösung Kreativität zu fördern? Offensichtlich nicht wenn wir uns Künstler wie Pablo Picasso oder Gerhard Richter anschauen. Beide Künstler waren und sind unfassbar produktiv. Tausende Werke – alleine bezogen auf Malerei – sind bei beiden Künstlern belegt. Kein Assistent, keine Assistentin haben die Werke geschaffen, sondern jeder der beiden selbst.
Es scheint sich also um Formen der Beschäftigung zu handeln, deren tätiges Sein möglichst anspruchsvoll in seiner Vielfalt, aber deshalb nicht alleine oder ausschließlich eine geistige Betätigung ist. Aus der Pädagogik wissen wir, dass Kinder oftmals nach Phasen scheinbarer Langeweile oder Ruhe besondere Geistesleistungen erbringen. Belegt ist dies sowohl für das Phänomen des Lernfortschritts und der Vertiefung von Inhalten als auch für das Finden neuer Spielideen. Aus der Hirnforschung wissen wir, dass Spielen selbst ein äußerst kreativer Akt ist. Spielerische Aktivitäten schaffen herausragende und vielfältigste Gehirnaktivität in unterschiedlichsten Gehirnregionen. Spiele sind Methoden der Welterkundung – räumlich, sozial, kulturell.
Es sind Methoden Situationen und Objekte miteinander in unterschiedlichste Beziehungen zu setzen.
Diese Vielfalt der Beziehungen ermöglicht faktisch neue Erlebnisse, deren geistige Durchdringung im zweiten Akt der Erkenntnis dient. Die Tragweite ebendieser Erkenntnisse wird erst in längeren Prozessen für den Menschen greifbar und setzt die Reflektion der Ergebnisse voraus. Das Ergebnis schaffen jedoch ist möglich ohne Erkenntnis alleine durch Tätig-Sein.
Vor diesem Hintergrund kann noch die einfachste Tätigkeit Ausdruck kreativen Schaffens sein, aber nicht jede Tätigkeit ist deshalb kreativ wirksam. In seinen frühen Videoarbeiten aus den 1960er Jahren hat der bedeutende US-amerikanische Künstler Bruce Naumann durch strikte Regeln des Verhaltens Zustände größter Fragilität geschaffen. In seinem Video Bouncing in the Corner No. 1 sehen wir, wie er sich rückwärts in eine Ecke eines Raumes fallen lässt und nach der Berührung mit der Wand sich wieder nach vorne abstößt. Nauman interessiert sich für den Schwebezustand des Fallens wo er weder stehen kann noch an der Wand lehnt. Dieser kurze Moment ist eine unwiederholbare Situation, da es nicht möglich ist sich immer in der gleichen Art und Weise abzustoßen oder fallen zu lassen und doch offenbart dieser Schwebezustand einen außergewöhnlichen Moment des Körpers und des Geistes. Die meisten Menschen können sich vermutlich an die Situation als Kind erinnern, in der man beim Schaukeln eine Höhe erreicht, wo man nicht mehr fest auf der Schaukel sitzt sondern kurzzeitig in der Luft schwebt, bevor man der Schwerkraft verpflichtet wieder auf dem Brett der Schaukel landet.
Wir arbeiten daran, dass Sie als Kursteilnehmer*innen in der Kunstakademie diesen Zustand des Schwebens erfahren – einen Augenblick voller Kreativität.